geschrieben von: Viktor Vetturelli
In den Jahren vor der Pandemie wurde das Wort ‚Agilität‘ zu einem Schlagwort, und alles wurde irgendwie ‚agilisiert‘ – nicht nur die Produktentwicklung, sondern auch Personalwesen (HR), Marketing, Vertrieb und sogar Buchhaltung. Konzepte wie Scrum wurden eingeführt, Hierarchien wurden abgeflacht, und überall wurden neue Werkzeuge implementiert. All dies geschah im Namen von Anpassungsfähigkeit, Innovation und Menschlichkeit. Um dies zu erreichen, rückte das Thema organisatorisches Lernen ebenfalls in den Vordergrund. Das geheime Rezept? Wissensaustausch mit einer Prise sozialer ‚Gemeinschaft‘. Die Trendsetter der Wirtschaft nannten dies soziales Lernen, Peer-Lernen oder Kohorten-Lernen – und so fand es seinen Platz auf der Speisekarte neuer Arbeitsphrasen. Das Ziel war klar definiert: eine Organisation zu werden, die kontinuierlich lernt, im Geiste des MIT-Professors Peter M. Senge und seines fantastischen Buches ‚Die Fünfte Disziplin‘.
Trotz unzähliger Initiativen, Schulungen und Workshops fehlen die erwarteten Effekte und Transformationen. Die übliche Erklärung: ‚Das Problem liegt bei den Mitarbeitern. Ihnen fehlt die richtige Denkweise, sie sind nicht reif genug oder wollen einfach nicht lernen.‘ Ist das wirklich der Fall? Oder sind die wahren Ursachen woanders verborgen? Bevor wir tiefer in mögliche Ursachen eintauchen, stelle ich zwei kurze Fragen zur Reflexion und bitte Sie, einen Moment innezuhalten und nachzudenken, bevor Sie weiterlesen: Erstens, wie erkennen Sie, dass in Ihrer Organisation tatsächlich Lernen stattgefunden hat, und wie erkennen Sie, dass dies nicht der Fall ist?
Komplexität – oft erwähnt, selten verstanden
Die heutige Realität wird oft durch die Akronyme VUCA (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Mehrdeutigkeit) oder die neuere Version BANI (brüchig, ängstlich, nichtlinear, unverständlich) beschrieben. Dies sind genau die Gründe, warum die Führung die Notwendigkeit einer organisatorischen Transformation erkennt. Obwohl diese Begriffe aufgrund der Hyperinflation ihrer Verwendung und der um sie entwickelten Methoden selten zu echtem Verständnis oder Veränderung führen (was der Grund ist, warum sie oft nur ein zynisches Lächeln bei vielen Mitarbeitern hervorrufen), können wir ihre Beschreibungen nicht als ungenau abtun.
Nehmen wir die Komplexität. Was bedeutet es eigentlich, wenn wir ständig lesen, dass wir in ‚komplexen Zeiten‘ leben und arbeiten? Eine kurze Erklärung: Komplexität entsteht, wenn viele miteinander verbundene Teile in Rückkopplungsschleifen und nichtlinearen Interaktionen unerwartete, emergente Eigenschaften erzeugen. Kleine Veränderungen können zu großen und schwer vorhersehbaren Konsequenzen führen, da die Dynamik nicht linear ist. Daher können komplexe Systeme nur begrenzt gesteuert werden. Lernen in Organisationen sollte den Menschen helfen, besser in einer komplexen Umgebung und deren Dynamik zu navigieren. Lernprojekte folgen jedoch meist einem linearen Muster: Ein Experte, entweder intern oder extern, wird hinzugezogen, der etwas weiß, das die Menschen in der Organisation angeblich nicht wissen, und dieses Wissen wird in Schulungen und Workshops vermittelt. Am Ende werden Materialien, Werkzeuge und Vorlagen geliefert. All dies hat seinen Platz, aber es ist nicht genug.
In der Komplexität begegnen wir Problemen, die wir nicht kennen und oft nicht einmal wissen, dass sie existieren. Der brillante Systemtheoretiker Russell L. Ackoff bezeichnete diese Probleme als ‚Mischungen‘ und beschrieb:
– Menschen stehen nicht vor Problemen; sie stehen vor Mischungen. Sie konfrontieren dynamische Situationen, die aus komplexen Systemen vieler sich verändernder Probleme bestehen, die miteinander interagieren. Ich nenne solche Situationen ‚Mischungen‘.
Eine Mischung ist gefährlich, denn darin beginnen Menschen, wenn sie nicht geschult sind, im Gegensatz zu Tragödien, in denen sie oft zusammenkommen – sich zu trennen. Es erfordert die Fähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen, denn es gibt keine richtigen oder falschen Lösungen; es ist entscheidend, die relevanten zu finden. Die Grundlage dafür ist, dass die Mitarbeiter gemeinsam ein Verständnis des Arbeitskontexts entwickeln. Schulungen und klassisches E-Learning helfen hier nicht, da sie bereits bekannte Lösungen übertragen. Verständnis kann jedoch nicht übertragen werden; daher funktioniert es nicht, selbst wenn einige Mitarbeiter geschult werden und dann gesendet werden, um dieses Verständnis weiter zu verbreiten. Für den gemeinsamen Aufbau und die Vertiefung des Verständnisses sind Gespräche, Perspektivwechsel und die Fähigkeit, mit den entstehenden Reibungen umzugehen, notwendig. Mit anderen Worten – Dialog.
